Vom Mauerblümchen zur Rose
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Die Landschaft zieht langsam an mir vorbei. Keine einzige Wolke am Himmel, saftig grüne Wiesen und gelbblühende Rapsfelder, die so leuchten, als würde sich die Sonne in den Blüten spiegeln. Die Knospen der grossen Kirschbäume blühen und der letzte Schnee hoch oben auf den Bergen scheint an diesen Tagen ganz wegzuschmelzen. Das sanfte Rattern des Zuges passt perfekt zu meiner Aussicht. Ich beobachte die Menschen in meinen Nebenabteilen. Alle haben Kopfhörer in den Ohren, schauen auf einen Bildschirm und scheinen sich komplett in eine andere Welt versetzt zu haben. Jetzt entdecke ich eine junge Frau ein paar Abteile weiter vorne. Sie hat eine kleine lila Rose im Haar und liest ein Buch. Auch sie nimmt wahrscheinlich alles rundherum nicht mehr wahr. Mit ihrer Art wie sie sitzt, wie sie liest und wie ihre Haare fallen, erinnert sie mich an mich, als ich jung war. Das Rattern lässt mich selbst wie in Trance versetzen. Ich sehe mich. Im Alter von 21 Jahren.
Ich sass im Zug auf dem Weg in die Uni. Endlich war das neue Buch von Simon Sanders erschienen und natürlich hatte ich es mir ergattern müssen. Jeden Tag las ich einige Seiten während der Zugfahrt. Der Liebesroman handelte von Lilly-Rose, wie sie ihren Traumprinzen fand und überglücklich war. Ich liebte solche Bücher, denn mein eigenes Liebesleben war überhaupt nicht spannend. Ich selbst war niemand, nach der man sich auf der Strasse umdrehte. Ich war 21 Jahre alt und hatte noch nie einen Jungen geküsst. Ich war immer die Unsichtbare neben meiner wunderschönen Schwester. Einer ihrer Freunde stellte sich jedes Mal bei mir vor, wenn wir ihn zufällig im Ausgang trafen. Nie erinnerte er sich an mich. Wie auch, ich hatte ein ganz normales Gesicht, ich war weder dick, noch hatte ich eine 90-60-90-Figur. Mittlerweile hatte ich mich aber damit abgefunden. Ich versteckte mich hinter meinen Liebesromanen und konzentrierte mich aufs Studium.
Ein Hund bellte neben mir. Ich schrak auf und liess mein Buch fallen. Ganz verwirrt hob ich es auf und versuchte, die Stelle von vorhin zu finden. Bevor ich jedoch weiterlas, musste ich aufblicken. Ein dezenter aber guter Duft eines Rasierwassers stieg mir in die Nase und liess mich einen Moment innehalten und mein Buch vergessen. Gegenüber auf der rechten Seite sass ein junger Mann, der mich freundlich anschaute. Sofort blickte ich wieder auf mein Buch. Aus meinem Augenwinkel bemerkte ich, wie er mich immer noch ansah. Ich spürte, wie ich errötete. Meine Hände wurden ganz feucht und mein Herz schlug plötzlich ganz schnell. Nun lächelte er mich an.
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Verwirrt schaute ich langsam nach hinten, doch da war niemand. Er musste also tatsächlich mich ansehen. Irritiert versuchte ich, weiterzulesen, doch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich wollte das alles ignorieren, doch ich war ganz durcheinander. Der Zug hielt nun in Chur und ich musste aussteigen. Den ganzen Tag in der Uni fühlte ich mich seltsam. Seltsam aber gut. So, als stünde ich vor einer Klausur, wegen der ich zwar nervös war, auf welche ich mich aber gut vorbereitet hatte. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass nur so etwas Winzigkleines mich für einen ganzen Tag zum Lächeln brachte, doch dieser Moment im Zug war schon etwas Magisches.
Die nächsten Tage waren wieder vollkommen normal. Mein stinknormales, langweiliges Leben. Ich sass wieder im Zug und las. Als der Zug nach einer Haltestelle weitergefahren war, nahm ich erneut den Geruch des Rasierwassers wahr. Tatsächlich sass der junge gutaussehende Mann wieder am exakt gleichen Platz wie letztes Mal. Ich richtete meine Augen zwar auf mein Buch, konzentrierte mich aber darauf, was im Rest meines Blickfeldes passierte. Ich fühlte mich beobachtet. Ich war mir zwar nicht sicher, aber ich spürte, wie er mich musterte.
An den nächsten Tagen achtete ich darauf, was ich anzog und kontrollierte öfters in meinem Handspiegel, wie meine Haare sassen. Seit unserer Begegnung war nun schon ein Monat vergangen. Am Dienstag, 13. Juni 1965 war ein besonderer Tag. Als er in den Zug einstieg, setzte er sich direkt vor mich hin und begrüsste mich. Noch nie habe ich so ein herzliches Lächeln gesehen. Seine Zähne waren blitzweiss und rechts an der Backe bildete sich ein Grübchen. „Dein Buch muss sehr gut sein. Wie heisst es?“, fragte er mich. Ich schämte mich, „Liebe passiert halt“ zu sagen. Ich schämte mich, überhaupt etwas zu sagen. Stotternd antwortete ich: „Ach, das… ist ein so richtiges Frauenbuch… Das würde dich langweilen.“ Wieder lächelte er. Er sah so gut aus. Und ich? Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken. Aber wenn ich ganz ehrlich war, wollte ich irgendwie auch bleiben. Er musste wohl spüren, dass ich nicht recht wusste, was ich sagen soll, deshalb begann er zu erzählen. „Ich bin Diego. Meine Eltern liebten den Film „Im Zeichen des Zorro“ so sehr, dass sie mich nach der Hauptfigur benannten. Naja, immerhin konnte ich mich gut ausreden, wenn ich als Kind nachts maskiert umherirrte und Unsinn plante.“ Ich hielt inne und musste kurz laut auflachen. Die Tatsache, dass sich jemand so banal vorstellte, jagte mir Tränen in die Augen.
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Für einen kurzen Augenblick waren Schamgefühl und Unwohlsein verschwunden. „Ich bin aber nicht der Typ, der seine Taten mit einem Z markiert. Ich spreche die Dinge lieber direkt an.“ Wieder musste ich schmunzeln. Da war ich aber nicht seiner Meinung. „Ich finde… das mit dem Z durchaus eine gute Idee… Es… hat etwas Geheimnisvolles… Es steht für etwas… Es bleibt spannend, da die Leute die Bedeutung dahinter nicht verstehen“, antwortete ich und war von mir selber total überrascht. Wieso habe ich das gesagt? Er musterte mich einige Sekunden. Das war’s wohl, dachte ich mir. Ich hätte nichts sagen sollen. Er würde sowieso gleich aufstehen und verschwinden. Stattdessen aber sagte er: „Vielleicht hast du Recht. Von dieser Seite habe ich es noch nie betrachtet.“ Ich war erstaunt und erleichtert zugleich.
Mir gefiel die Art, wie er mich ansah. So, als nehme er mich ernst. So, als wäre ich jemand, dessen Meinung wichtig ist. „Ich heisse übrigens Amelia“.
Nachdem ich aufstand und zur Zugtür ging, drehte ich mich nochmals um. Mein Herz schlug wie nach einem Marathon und meine Mundwinkel wollten einfach nicht unten bleiben. Zögernd und leise sagte ich: „Na dann… bis morgen.“ „Ich freue mich“, antwortete er.
Der nächste Tag verlief ähnlich. Er stieg ein, setzte sich zu mir und begann, von seinem Dessert zu schwärmen, welches er am Vorabend gegessen hatte. „Ich wusste nicht, dass die Kombination aus Zitronencreme, Heidelbeeren und Pinienkernen mich so glücklich machen kann. Ich glaube, das waren die besten Beeren, die ich je gegessen hatte. Mein Grossvater hatte sie auf seiner Alp gepflückt.“ Er strahlte eine unglaubliche Freude aus, als er das erzählte. Seine Augen funkelten euphorisch. „Was ist das Beste, das du je gegessen hast?“, fragte er mich. Verdutzt hielt ich die Luft an. Nie habe ich mir diese Gedanken gemacht. Wieso eigentlich nicht? „Ich ehm… mag die Lasagne meiner Mutter sehr…“ In dem Moment kam ich mir blöd vor. Wir redeten über Essen. Wir kannten uns kaum aber eines der ersten Themen, worüber wir sprachen, war Essen. Doch er machte einen ganz lockeren Eindruck, als wäre das etwas vom Normalsten. Noch nie hatte ich jemanden gekannt, der an kleinen Dingen solch eine Freude hatte. Ich musterte ihn. Noch nie hatte ich einen Menschen so bewundert.
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Als er eines Tages einstieg und sich zu mir setzte, übergab er mir eine lila Rose und fragte mich: „Welche Vorlesungen stehen heute an?“ Ich sagte: „Ach ehm…bloss Statistik… Nicht so mein Ding, und bei dir?“ „Für mich nichts, ich werde ein wunderschönes Mädchen, das ich im Zug kennengelernt hatte, überreden, Statistik zu schwänzen.“ Ich blieb stumm und bewegte mich nicht. Habe ich richtig gehört? Ich spürte mein Herz wieder schneller schlagen. Für einen so besonderen Moment im Leben hätte ich sogar Philosophie geschwänzt.
Der Zug fuhr an Chur vorbei, doch wir beide sassen noch drin. Wir fuhren in ein Dorf, das nahe an einem wunderschönen See lag. Auf einer Bank sitzend redeten wir stundenlange über Gott und die Welt. Auch ich begann, von mir zu erzählen. Das unwohle Gefühl in seiner Anwesenheit verschwand. Im Gegenteil. Wenn er bei mir war, fühlte es sich an, als gäbe es kein Leid auf der Welt. An einem Stand beim Seeufer kauften wir uns ein Schokoladen-Vanille-Eis und spazierten auf dem schmalen Kieselweg bis zum Bahnhof. Nachdem die flammenrot gefärbte Sonne hinter dem See untergegangen war, fuhren wir wieder mit dem Zug heimwärts. „Das war ein wunderschöner Tag, danke“ „Das war es. Danke, dass du mich Statistik vorgezogen hast“, antwortete er lächelnd. Unsere täglichen Zug-Treffen wurden schon bald zur Normalität, doch wir hatten uns immer etwas zu erzählen. Er war nicht nur attraktiv, sondern auch sehr klug. Aber was ich am meisten an ihm mochte, war, wie er mich mit den ordinärsten Sachen zum Lachen brachte.
Unser zweites Treffen abseits des Zuges fand auf einer Wiese nahe am Waldrand statt. Es war ein ruhiges Plätzchen und wir sassen auf einer Decke im Schatten eines Kirschbaumes und picknickten. Ich genoss die Aussicht und hatte das Bedürfnis, aufzustehen und durch das hohe Gras zu streifen. Ich streckte die Arme aus und drehte mich im Kreis. Zum ersten Mal nahm ich die Umwelt um mich herum bewusst wahr. Die Vögel, die Blumen, der Geruch, der Wind. Diego stand auf und kam zu mir. Völlig unerwartet zückte er wieder eine lila Rosa hinter seinem Rücken hervor. Als er sie mir übergab, berührten sich unsere Finger. Ich zuckte und sofort war da wieder dieses seltsame Gefühl. Meine Knie fühlten sich weich an. Doch er schaute mir tief in die Augen. Vorsichtig strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht und kam mir näher. Meine Knie begannen zu zittern und ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich schloss die Augen und spürte seine zarten Lippen auf meinen.
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Mein rasendes Herz und die ganze Welt standen nun einen Augenblick still. Ich dachte, meine Knie liessen nach, sodass ich jeden Moment umfallen konnte, doch da begann er, mich an der Hüfte zu halten. Da war wieder der Geruch seines Rasierwassers. Meine Haare und mein Kleid wehten im leichten Wind. Das Rauschen des hohen Grases klang wie beruhigende Wellen. Da war nichts Störendes. Nur er und ich.
Auf dem Heimweg im Zug schmiegte ich mich an ihn. Es fühlte sich so gut an, in seinen starken Armen zu liegen. Er sah zu mir herunter. Ich lächelte ihn an und zum ersten Mal fühlte ich mich schön. „Weisst du, was lila Rosen bedeuten?“ Ich schüttelte den Kopf. „Sie bedeuten ‘Liebe auf den ersten Blick’. Simon Sanders schrieb einst, man sollte einen sehr guten Grund haben, sie zu verschenken.“ Ich schluckte und meine Augen wurden feucht.
Das Klingeln eines Smartphones rüttelt mich aus meinen Gedanken. Aus meinen Erinnerungen, in die ich lieber wieder verschwinden würde. Ein Geschäftsmann mit Anzug und Koffer sitzt an der Stelle, an der vorhin die lesende junge Frau war. „Wir müssen auf diese Wirtschaftslage reagieren, wir können uns nicht einfach dagegen sträuben, wir müssen mit dem Trend mitziehen!“, brüllt er mit energischer Stimme in sein Smartphone. Ich erreiche die Haltestelle und schreite so gut es geht mit meinem Stock und der Tasche auf der linken Schulter die Bahnhofunterführung durch bis hin zur Feldstrasse und zum Friedhof. Hier stehe ich nun. „In dem Moment, als ich mich damit abfand, niemanden zu finden, der mich so lieben würde wie Jack es Lilly-Rose tat, tauchtest du auf. Jemand, der mehr in mir sah, als die gewöhnliche Frau, nach der sich niemand auf der Strasse umdreht.“ Aus der Tasche nehme ich ein grosses geschlossenes Glas, das mit getrockneten lila Rosenblättern gefüllt ist, und stelle es neben die anderen auf den Grabstein. Eine Träne rollt mir übers Gesicht und doch verlasse ich den Ort mit einem Lächeln.